Nach der Betrachtung der historischen Entwicklungen stellt sich die Frage nach den alltäglichen Gegebenheiten in der hochmittelalterlichen Stadt: In welchen Wohnverhältnissen lebt die Handwerkergattin/-tochter und welche Erwartungen stellt das gesellschaftliche Umfeld an sie? Wie gestaltet sie ihren Alltag? Mit welchen sozialen Problemen wird sie vielleicht konfrontiert? Und welches Weltbild wirkt auf den einfachen Menschen ein?
Städtische Infrastruktur und bauliche Gegebenheiten
Die mittelalterliche Stadt entwickelte sich im Zuge des hochmittelalterlichen Landesausbaus, der verstärkten Nutzung von Flüssen als Verkehrswegen, der Anlegung eines Straßennetzes, der Rodung von Wäldern und der Verdichtung der frühmittelalterlichen Siedlungsinseln zu Siedlungsräumen meist rund um bestehende Befestigungen, Verwaltungssitze und Märkte oder an Kreuzungen von Verkehrswegen und Furten, wobei das Nebeneinander von einer Burg und einer Kaufmanns- und/oder Handwerkersiedlung am weitesten verbreitet war. Die Etablierung von regelmäßig stattfindenden Märkten an befestigten Siedlungsplätzen förderte die Stadtentstehung und -werdung maßgeblich. Mit der Verstädterung einher gingen gewerbliches und agrarisches Wachstum sowie eine dadurch ermöglichte Bevölkerungszunahme. Die Aussicht auf ein sichereres, freieres und leichteres Leben innerhalb einer Befestigung sowie bessere wirtschaftliche Chancen zog die Menschen in die Städte.
Die Hauptkriterien der Stadt sind eine verdichtende Bebauung, eine überwiegend nicht-agrarisch tätige Einwohnerschaft, eine differenzierte Gewerbe- und Sozialstruktur, eine Funktion als politischer, administrativer oder kirchlicher sowie Handels- und Produktionsmittelpunkt, die Stadtmauer und das Stadtrecht.
Um 1200 war die urbane Siedlung noch überwiegend eine Ansammlung isoliert stehender Gehöfte in der Nähe einer adeligen Burg oder Pfalz, einer Kirche oder eines Klosters, eines großbäuerlichen Wirtschaftshofes oder eines Handelsplatzes mit enger Bindung an die jeweilige Grundherrschaft bzw. den Stadtherrn.
Im 13.Jh. setzten dann eine geschlossene, meist giebelständige Bebauung sowie die Bildung von Straßen- und Gassenzügen ein, die, unterstützt durch die Errichtung von steinernen Stadtmauern, das Stadtbild von der ländlichen Siedlung abgrenzten. Aus Ministerialen, Kaufleuten und Handwerkern bildeten sich (auf der Basis einer gemeinschaftlichen eidlichen Einigung) städtische Eliten bzw. Stadträte heraus, die sich vom Einfluss des Stadtherrn lösten, sukzessive die vormals stadtherrlichen Rechte übernahmen und eine eigene städtische Selbstherrschaft etablierten. Handwerk und Handel konzentrierten sich zunehmend auf die Städte, eine Arbeitsteilung von Stadt und Land war die Folge.
Der Begriff des Bürgers
Die Verleihung von Rechten an Amtsträger und Körperschaften und die Formierung von städtischen Räten an der Wende vom 12.Jh. zum 13.Jh. zeigen die Existenz von Privilegien für bestimmte gesellschaftliche Gruppen. Neben im Dienst der Stadtherren stehenden Ministerialen und Kaufleuten, die allmählich ein Gruppenbewusstsein entwickelten, bildeten teilweise in direkter Abhängigkeit vom Stadtherren wirkende Handwerker und Gewerbetreibende das Rückgrat der kommunalen Wirtschaft und forderten ab dem 13.Jh. zunehmend Rechte sowie politische Selbstbestimmung und Partizipation. Garantien der persönlichen Freiheit, Eigentums- und Besitzgarantien und das Erbrecht lösten die städtischen Einwohner aus den herrschaftlich-hofrechtlichen Verbänden des Stadtherrn, der Hörigkeit oder Zensualität und schufen mit der Auflösung der Bindung an einen Grundherrn die Basis für die Herausbildung von Bürgerschaften. Der Gedanke der Bedeutung des Wohnsitzes für einen Rechtskreis führte zu einer allgemeineren Gültigkeit der Stadtrechte und zu einem einheitlichen Recht der Bürger.
Voraussetzungen für das Bürgerrecht waren Immobilienbesitz in Form eines grundsteuerpflichtigen Anwesens innerhalb der Gemeinde oder Stadt sowie die „ehrliche Geburt“. Die Ehefrau und unmündige Kinder eines Mannes waren in das Bürgerrecht mit eingeschlossen, das Bürgerrecht konnte jedoch nicht vererbt werden.
Wohnverhältnisse und näheres Umfeld
Angesichts der Entwicklung Rothenburgs aus einer Bediensteten- und Handwerkersiedlung im Umfeld der staufischen Burg und der regen Bautätigkeit in Regensburg um 1200 liegt die Wahl der Gattin oder Tochter eines vielleicht in einer Genossenschaft oder schon Zunft organisierten und der städtischen Mittelschicht angehörigen Handwerkers z.B. aus dem Metallgewerbe oder Steinbau nahe. Er nennt ein Anwesen innerhalb der Stadtmauern sein Eigen, das einen Teil einer Häuserzeile mit eng aneinander gereihten, im Laufe der Jahre in die Höhe wachsenden Gebäuden bildet.
Dieses kleine Haus mit wohl langrechteckigem Grundriss (mit einer Fläche von höchstens 50qm) und kleinen Fensteröffnungen ist eventuell noch eine Pfosten-Schwellriegel-Konstruktion, wahrscheinlicher aber ein hölzerner Fachwerk-Ständerbau oder möglicherweise schon ein Steingebäude mit vielleicht einem fachwerkenen Obergeschoss. Das mit Stroh oder Holzschindeln gedeckte Haus wird zumindest die Form eines Einraumhauses besitzen, in dem Wohn- und Schlafbereich jedoch voneinander getrennt sind. Im über einen Fußboden aus festgetretener Erde, Holz, Lehm oder Steinplatten verfügenden Wohnraum steht wohl ein Ofen, der von der Feuerstelle in einer Küche aus beheizt wird. Das Mobiliar besteht wahrscheinlich aus als Sitz- und Schlafgelegenheiten genutzten Bänken an den Wänden, einfachen Holzschemeln und Truhen zur Aufbewahrung von Gegenständen.
Da auch das städtische Leben agrarisch grundiert ist und die Selbstversorgung zum Haushalt gehört, wird am oder im Haus möglicherweise ein Schwein, das wichtigste Wirtschaftshaustier des Mittelalters, gehalten. Das aufgrund der dichten Bebauung durch Nachbarschaft auf engstem Raum (und den so weitgehend öffentlich liegenden Bereich der Hygiene) geprägte Umfeld des Hauses wird daher nicht gerade sauber sein, denn zu dem Gestank des Schweines und Misthaufens kommen mangels einer Möglichkeit bzw. Regelung zur Müllbeseitigung auf die Straße geworfene Abfälle und Unrat sowie der Geruch eines eventuell im Hof in Form einer Erdgrube angelegten Abortes. Über mit Holzbohlen befestigte oder vielleicht schon mit Kieseln oder Bruchsteinen gepflasterte Straßen ist in der näheren Umgebung des Hauses oder auf dem Marktplatz ein schachtförmig in das Erdreich getriebener, hölzerner Zieh- und Schöpfbrunnen zu erreichen, der für die städtische Gemeinschaft (durch undichte Fugen sowie benachbarte Abfallschächte und Kloaken in der Qualität gemindertes) Wasser bereit stellt, das häufiger zum Strecken des Weines oder Sieden der Speisen verwendet als direkt getrunken wird.
Häuslicher Alltag: „Der frid im Hauss muss von der frawen herkomen.“
Die Pflege des Hauses, die Versorgung der Familie, ein Leben nach christlichen Grundsätzen unter der Einhaltung weiblicher Tugenden, ab und zu Einkäufe auf dem Markt (Lebensmittel, Haushaltsgegenstände, Stoffe...) und eventuell die Mitarbeit in der Werkstatt des Ehemannes oder Vaters werden im Mittelpunkt des Alltages der nicht-adeligen mittelalterlichen Frau gestanden haben. Dabei befindet sich die Frau stets unter dem Schutz eines Mannes, entweder des Vaters oder Ehegatten, ist ihm untergeordnet und kann nur mit seiner Zustimmung handeln (der Mann hat als Hausvater die „gewere“, einen Anspruch zur Aufsicht und Fürsorge, am Besitz der Frau).
In der vertraglich auf Grundlage eines Konsens, einer gegenseitigen Zustimmung der Partner, und als weltlicher Akt geschlossenen, als eine Art Überlebensgemeinschaft fungierenden Ehe ist der Mann als Hausherr der privilegierte Partner, die Frau als genoz, dienstbereite Genossin (Ernst Schubert) des Mannes und Führerin des Haushaltes (sie besitzt die „Schlüsselgewalt“ im Haus und somit eine eigene Verantwortung) jedoch mehr als nur ein stummer Schatten.
Die ökonomischen Zwänge einer Überlebensgemeinschaft stellen im Alltag eine gewisse Gleichberechtigung her. Die rechtlichen Rahmenbedingungen des Eheschlusses betonen, da das konsensgebundene mittelalterliche Recht nach Prinzipien zur Vorbeugung alltäglicher Konflikte und des Begrenzens ihrer gemeinschaftsstörenden Auswirkungen sucht, hingegen die Hausherrschaft der Mannes (denn die Repräsentation der Gemeinschaft wird als Männersache betrachtet).
Allgemein verbreitet ist die Grundauffassung von der „Schwachheit“ und fehlenden Perfektion der Frau, die den überlegenen Mann braucht. Die Frau wird als schwierige Gefährtin wahrgenommen, die vor Prügeln nicht gefeit ist. Gewalt in der Ehe ist nichts Ungewöhnliches, diese Gewalt aber wird im Verlauf des Mittelalters immer deutlicher kritisiert. Zahlreiche Sprichworte wenden sich gegen das Schlagen der Frau und kommen auch zu dem Schluss, dass trotz des Behaltens der Oberhand durch den Mann sich letztendlich doch der Wille der Frau durchsetzt.
Die mittelalterliche Ehe ist in der Regel durchaus durch Zuneigung und gegenseitigen Respekt gekennzeichnet und bildet so eine belastbare Lebensgemeinschaft, in der die Zeugung von Nachkommen eine wichtige Rolle einnimmt.
Soziales Umfeld und menschliches Miteinander
Als mittelalterlicher Mensch bewegt sich die Handwerkergattin stets im Raum der Öffentlichkeit. Private Rückzugsmöglichkeiten stehen gerade im städtischen Bereich aufgrund der beengten Wohnverhältnisse nicht zur Verfügung. Das Zusammenleben hängt von konsensgebundenen Einstellungen der Allgemeinheit ab, Privatleben und Privatsphäre sind unbekannt. Das soziale Umfeld, die Gemeinschaft, in die der mittelalterliche Mensch eingebunden ist, bestimmt alltägliche Sitten und ist geprägt durch eine weitherzige Auffassung und eine für den modernen Menschen ungewohnte, aber gewollte Direktheit im gegenseitigen Umgang. Man äußert sich unmittelbar und sagt seine Meinung (um nicht als gleichsner, „Schleimer“ zu gelten), obgleich die höfische Verbindlichkeit der mâze, die Gemessenheit in Wort und Gebärde, sich zunehmend auch auf die Städte ausweitet. Der Mensch definiert sich in seinem sozialen Verhalten über sein Ansehen bei den Mitmenschen, das unter anderem im Gruß anerkannt und möglicherweise mit einem Segenswunsch zum Abschied honoriert wird.
Daneben wird aber auch über den uneinsichtig oder tollpatschig agierenden oder sich von der Normalität abweichend verhaltenden Mitmenschen gespottet, sehr gerne in Form von Erfahrungsweisheiten, den Sprichworten, oder mittels Schimpfworten zur Bestrafung von üblem Handeln durch Zufügen von Leid und Schmähung. Auch Verwünschungen und Flüche angesichts von Zorn über Mitmenschen oder widerfahrener Missgeschicke sind häufig zu hören, Gewalt und Handgreiflichkeiten bei der Austragung zwischenmenschlicher Konflikte an der Tagesordnung. Aufgrund von List und Betrug als Alltagsgefahr hat man gelernt, den Mitmenschen zu prüfen. Das Vertrauen begleitet stets ein wachsames Misstrauen.
Auch Gott wird als Mithandelnder im alltäglichen Leben angesehen. Sorge um das eigene Seelenheil und um das der Mitmenschen führt zu Almosen, Erbarmen und Mitleid und steht in Kontrast zur ebenso üblichen Schadenfreude, zum Gutheißen von List und Betrug im Kampf um das tägliche Brot.
Das schützende soziale Netz stellen in dieser teilweise chaotischen Welt die durch die Geburt bestimmte Verwandtschaft und die frei gewählte, mit einem hohen Wert versehene vriuntschaft dar, die in das Leben des Einzelnen einwirken. Ob des Wissens um die Gefährlichkeit von Feindschaft etwa aufgrund von Erbstreitigkeiten bemüht man sich um friedenssichernde Maßnahmen in Form von in zeremonielles Handeln eingebundenen, jedoch meist rein äußerlichen Aussöhnungen.
Hinter allem zwischenmenschlichen Umgang steht die existentielle Beziehung des mittelalterlichen Menschen zum Jenseits. Nicht das individuelle Schicksal ist von Bedeutung, sondern das Gewissen und Seelenheil des Einzelnen. Dabei ist man durchaus sensibel für die psychische Gestimmtheit des Mitmenschen und kennt die Abhängigkeit von menschlichem Handeln und innerer Disposition, den Zusammenhang zwischen Psyche und (schicksalsbedingter) Krankheit. Anders als der moderne Mensch versucht der Mensch des Mittelalters aber nicht, das Innere und Gewissen eines anderen zu ergründen. Man greift nicht in fremde Seelen ein.
Weltbild
Blut: Sanguiniker, Luft, warm und feucht, munterSchleim: Phlegmatiker, Wasser, feucht und kalt, trägeSchwarzgalle: Melancholiker, Erde, kalt und trocken, traurigGalle: Choleriker, Feuer, trocken und warm, wild.
Bei all diesen für den modernen Menschen vielleicht seltsam anmutenden Vorstellungen gilt es immer das Problem der Aufklärung im Mittelalter im Hinterkopf zu behalten: Die Gesellschaft ist erst im Entstehen begriffen, was die Mitteilung von Erkenntnisfortschritten erschwert oder verhindert.
verwendete Literatur